- Wozu das ganze ? -
Bei der Arbeit an diesem Buch bin ich mehrfach die Gesetzestexte durchgegangen, die Richtlinien, Vorschriften, Bestimmungen sowie die informierende Fachliteratur.
Zu Lebzeiten meiner pflegebedürftigen Frau (Anmerkung: 12/2006 verstorben) hätte ich dazu weder die Zeit, noch die Nerven gehabt, mich damit zu befassen. Jetzt versuche ich, die Dinge unter die Lupe zu nehmen. Das ist nicht einfach, und vieles bleibt unverständlich. Dies stellt auch die Verbraucherzentrale Nordrhein-Westfalen fest in ihrer Broschüre “Das Pflegegutachten”:
„Bürokratendeutsch ist nicht immer einfach zu verstehen und scheint mit der Lebensrealität von Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen nicht immer übereinzustimmen. So ist auch bei den sogenannten Verrichtungen des täglichen Lebens - die für die Einstufung des Pflegebedürftigen ja von so hoher Bedeutung sind - manchmal nach dem allgemeinen Sprachgebrauch nicht nachvollziehbar, welche Begrifflichkeiten und Handlungen der Gesetzgeber konkret meint.“
So geht es zum Beispiel um die Beschreibung von Schädigungen / Beeinträchtigungen der Aktivitäten/Ressourcen in Bezug auf den Stütz- und Bewegungsapparat, die Inneren Organe, die Sinnesorgane und Nervensysteme/Psyche. (MDS-R 3.2).
Es geht um Screening und Assessment zur Feststellung von Personen mit erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz. (MDS-R 3.5). Möglichst alles unverständlich.
Im Anhang der Richtlinien des MDS finden sich Erklärungen für diese geheimnisvollen Bezeichnungen:
Assessment bedeutet Abschätzung; Zusammentragen von Informationen anhand standardisierter Schemata, um das Ausmaß vorhandener bzw. verlorener Fähigkeiten einschätzen zu können z.B. zur Beurteilung der Selbständigkeit älterer Menschen - Screening ist Vortest, Suchtest.
Derart umständlich geht es weiter. Seien Sie sicher, ich bemühe mich in diesem Buch, aus dem ganzen Wust nur das zu zitieren, das für meine Betrachtungen und Analysen - und für Sie - von Wichtigkeit ist.
Zum Beispiel will ich herausheben, was unter MDS-R D 2.1 über “Pflegerelevante Aspekte der ambulanten Wohnsituation” geschrieben steht.
Der Gutachter hat sich ein umfassenden und genaues Bild von der Wohnsituation des Antragstellers zu machen, zumal sich diese umwelt-bezogenen Kontextfaktoren fördernd oder hemmend auf den Hilfebedarf auswirken können.
Zu dokumentieren sind: Lage der Wohnung (Stufen zum Hauseingang, Etage, Fahrstuhl), Anzahl der Räume, Stufen oder Treppen in der Wohnung, Erreichbarkeit von Bad/Waschmöglichkeit und Toilette, Erreichbarkeit des Telefons, Behindertenadaptierte Verhältnisse/ Erschwernisse (z.B. Türbreite, Schwellen, Art des Bettes, Art der Heizungsanlagen).
Die Sicherheit der unmittelbaren Umgebung des Antragstellers (z.B. lose Teppiche, rutschiger Holzboden) ist anzugeben und ggf. unter Punkt 6.4 “Verbesserung/Veränderung der Pflegesituation” des Formulargutachtens Empfehlungen auszusprechen. - Zitat-Ende (MDS-R D2.1).
Langweilt Sie das ?
Es ist nur ein wenig von vielem. Es darf Sie nicht langweilen, in Ihrem eigenen Interesse ! Bedenken Sie, all das und ähnlich vieles andere soll der Gutachter in Augenschein nehmen und beurteilen neben allen medizinischen Aspekten des Erkrankten, er soll Entschlüsse fassen über den Umfang des jeweiligen Hilfebedarfs für die “Verrichtungen des täglichen Lebens” und-und-und. Das alles bei einem Hausbesuch des Gutachters - einer “Pflegefachkraft” - in Zeitdauer von 20 - 40 Minuten. Unmöglich !
Aber wozu das alles ?
Eigentlich nur aus zwei Gründen.
1) Wie wird der Antrag entschieden. Für eine Entscheidung zugunsten des Antragstellers bedarf es einer “erheblichen Pflegebedürftigkeit auf Dauer” (mindestens 6 Monate).
2) Wie hoch ist der zeitliche Aufwand (in Minuten) für den Hilfebedarf des Pflegebedürftigen, der gewöhnlich und regelmäßig im Tagesverlauf anfällt. Davon hängt die Pflegestufe ab.
Ein aufgetürmtes Reglement für diese zwei Bewertungen ! Die “erhebliche Pflegebedürftigkeit” eines Erkrankten lässt sich weitgehend einfacher, unaufwendiger und unbürokratischer feststellen.
Im Gesetz (SGB XI § 18) ist zu lesen:
Der Medizinische Dienst soll, soweit der Versicherte einwilligt, die behandelnden Ärzte des Versicherten, insbesondere die Hausärzte, in die Begutachtung einbeziehen und ärztliche Auskünfte und Unterlagen über die für die Begutachtung der Pflegebedürftigkeit wichtigen Vorerkrankungen sowie Art, Umfang und Dauer der Hilfebedürftigkeit einholen.
Mit Einverständnis des Versicherten sollen auch pflegende Angehörige oder sonstige Personen oder Dienste, die an der Pflege des Versicherten beteiligt sind, befragt werden. (Abs. 4).
Die Pflege- und Krankenkassen sowie die Leistungserbringer sind verpflichtet, dem Medizinischen Dienst die für die Begutachtung erforderlichen Unterlagen vorzulegen und Auskünfte zu erteilen... (Abs. 5).
Die Untersuchung im Wohnbereich des Pflegebedürftigen kann ausnahmsweise unterbleiben, wenn auf Grund einer eindeutigen Aktenlage das Ergebnis der medizinischen Untersuchung bereits feststeht ... (Abs. 2).
Der Medizinische Dienst merkt dazu an: Zu den Auskunftspflichten der Vertragsärzte bestehen Vereinbarungen zwischen den MDK und den Kassenärztlichen Vereinigungen ... (MDS-R C 2.1).
Reicht das nicht ?
Ein solches Verfahren müsste ja nicht nur ausnahmsweise erfolgen, sondern könnte die Regel sein. In meinem/unseren Fall hätte die bereits erwähnte Schwerbehinderung meiner Frau mit Grad 100 allein schon gewichtig sein müssen.
Bleibt als weiterer Punkt die Feststellung des Hilfebedarfs für den Pflegebedürftigen bei den regelmäßig im Tagesverlauf anfallenden Verrichtungen. Hier nun geht es um entscheidende Minuten. Und die wiederum sind ausschlaggebend für das Schicksal des Antrags. Das wissen Sie normalerweise aber gar nicht.
Ich hatte schon darauf hingewiesen, dass der Gutachter eine Machtposition innehat.
Für sein Formular hat er “Orientierungswerte zur Pflegezeit-bemessung”, Maßstäbe, die er mit Routine benutzen kann.
Es heißt aber ausdrücklich in den Richtlinien (MDS-R D 4.0/V Abs. 2):
Weil für die Feststellung der Pflegebedürftigkeit und die Zuordnung zu einer Pflegestufe allein der im Einzelfall bestehende individuelle Hilfebedarf des Antragstellers maßgeblich ist, können und sollen die Zeitorientierungswerte für die Begutachtung nur Anhaltsgrößen im Sinne eines Orientierungsrahmens liefern.
Ferner ist ausdrücklich erwähnt: Erschwernisfaktoren sind bei der Feststellung des individuellen zeitlichen Hilfebedarfs für die jeweilige Verrichtung zu berücksichtigen und gesondert auszuweisen. (MDS-R D 4.0/V Abs. 2). -
Derart im Juristendeutsch vorbereitet, begeben wir uns in das Wirrwarr der Zeitorientierungswerte (mitunter heißen sie auch “Zeitkorridore”).
Jetzt wird es dröge - entschuldigen Sie. Ich bitte, dies nicht mir anzulasten. Es liegt in der Materie. Zwangsläufig.
Ich will Ihnen an verschiedenen Situationen und Beispielen verdeutlichen, was für ein Labyrinth von Spitzfindigkeiten es gibt.
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