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- Demenz -

Vor einiger Zeit gab es eine Diskussion darüber, dass Demenzkranke nicht zu denjenigen gehören, deren Erkrankung in der Pflegeversicherung Berücksichtigung findet. Es war irrational und zeigte, dass weder Sozialverbände noch das Gesundheitsministerium selbst über die Details der Pflegeversicherung bescheid wissen.

Möglicherweise verursacht ein Fehler im Gesetz falsche Interpretationen. Es geht um § 14 des Sozialgesetzbuches XI. Hier ist in Absatz 1 der “Begriff der Pflegebedürftigkeit” definiert:

Pflegebedürftig im Sinnes des Buches sind Personen, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate, in erheblichem oder höherem Maße ... der Hilfe bedürfen.

In Absatz 2 sind unter Punkt 3 die geistigen oder seelischen Krankheiten und Behinderungen weiter erläutert: Störungen des Zentralnervensystems wie Antriebs-, Gedächtnis- oder Orientierungsstörungen sowie endogene Psychosen, Neurosen oder geistige Behinderungen. Diese Kranken sind also “pflegebedürftig im Sinne des Buches”
Doch im selben Paragraph (§ 14) werden sie im einschränkenden Absatz 4 gar nicht berücksichtigt ! Da geht es nur darum, wie oft ein Pflegebedürftiger pro Tag Hilfe braucht bei der Körperpflege, der Mobilität, der Nahrungsaufnahme, der hauswirtschaftlichen Versorgung. Deutlich ist hier unbeachtet geblieben, dass die in Absatz 2, Punkt 3 genannten geistig und seelisch behinderten Menschen darüber hinaus weit mehr und auch andere Hilfen benötigen !

Ich will ein simples Beispiel schildern. Eine junge Frau erzählte mir, dass sie ihre demenzkranke Mutter in der Körperpflege und bei Mobilität in erheblichem Maße anleiten und unterstützen muß. Ihre Mutter koche aber noch gerne selbst, jene Mahlzeiten, die sie ihr Leben lang sehr gut bereitet hatte. Nur verwende sie leider viel zu viel Salz, so dass das Essen ungenießbar sei. Die Tochter hatte das Salz aus dem Küchenschrank genommen. Nun lief die Mutter in der Wohnung herum und fragte sich: “Wo habe ich denn das Salz gelassen ?”

Die junge Frau meinte, sie sei ja sehr froh, dass ihre Mutter noch selbständig kochen könne und Freude daran habe, aber sie müsse immer dabei sein, aufpassen, helfen, unterstützen, zumal ihre Mutter auch oft vergesse, den Herd auszuschalten. - Ist das kein Pflegefall im Sinne von SGB XI § 14 Abs. 2, Punkt 3 ?

Es gibt Urteile des Bundessozialgerichts, habe ich gelesen, nach denen dieses möglicherweise nur als “allgemeine Beaufsichtigung” der hilfsbedürftigen Person gewertet werden würde. Die bloße Anwesenheit einer Pflegeperson sei nur “passive Hilfe”; die Pflegeperson könne während dieser Zeit auch andere Dinge erledigen, nach den Vorgaben des Sozialgesetzbuches sei nur “aktive Hilfe” anzuerkennen. - Das wäre deutlich am Sozialgesetz vorbei geurteilt. Jede pflegebedürftige Person benötigt aktive Hilfe !

Der Betreuer eines Demenzkranken kann in jedem Moment des Alltagslebens mit einer irrationalen Situation konfrontiert werden, die ihn fordert und die er bestehen muß.

 Ich will ein Beispiel anführen, wie es in dieser oder ähnlicher Art immer wieder vorkommt. Der Kranke fragt beiläufig: “Ist heute Dienstag oder Dezember ?” Der Betreuer bringt viel Geduld auf, den Kranken auf den Widerspruch aufmerksam zu machen. Dann äußert dieser ein verständnisvolles “Ach so !” - und hat im nächsten Augenblick vergessen, dass es ein Thema war.

Erstaunlicherweise greifen in Bezug auf geistige Erkrankungen die Spitzenverbände der Pflegekassen in ihren Richtlinien die Symptome weitaus besser auf, als das Gesetz es besagt, und berücksichtigen sie deutlich. Gerade hier sind die Geistes- und Gehirnerkrankungen ein besonderes Thema.

Zur Beurteilung “Sinnesorgane und Nervensystem/ Psyche” wird ausdrücklich angemerkt: Eine Beeinträchtigung der Aktivitäten ist Folge einer Schädigung und stellt jede Einschränkung oder jeden Verlust der Fähigkeit, Aktivitäten in der Art und Weise oder in dem Umfang auszuführen, die für einen Menschen als normal angesehen werden kann, dar. (MDS-R D 3.2).

Wieder einmal ist etwas umständlich ausgedrückt. Es verdeutlicht aber, dass es sich um Normabweichungen handelt, die beachtet werden müssen. Dazu gehören natürlich Demenz und selbstverständlich die Alzheimer Krankheit. Seitenlang und in mehreren Kapiteln (z.B. MDS-R D 4.0/III) befassen sich die Richtlinien mit Demenzkranken und psychischen Verhaltensstörungen. Worum es sich dabei handeln kann, liste ich hier einmal auf aus den Richtlinien des MDS (Anlage 4):

Bewusstseinsstörungen . Orientierungsstörungen . Aufmerksamkeits-störungen . Gedächtnisstörungen . Formale Denkstörungen . Befürchtungen und Zwänge . Inhaltliche Denkstörungen . Sinnestäuschungen . Ich-Störungen . Affektstörungen . Antriebsstörungen . Störungen der Einstellung und des Erlebens . Psychovegetative Störungen.

Weitere medizinische Begriffe zu psychischen Erkrankungen oder geistigen Behinderungen finden sich in den Richtlinien unter MDS-R D 4.0/III./8, 8a-8c, unter anderem:

Organische Psychosen . Schizophrenie . Schizotype und wahnhafte Störungen . Psychotrope Substanzen (Abhängigkeitserkrankungen) . Intelligenzminderung. (Die Punkte sind in den Richtlinien jeweils mit Erläuterungen versehen.)

Soll einer sagen, Menschen mit psychischen Erkrankungen und geistigen Behinderungen seien in den Gutachter-Richtlinien nicht berücksichtigt gewesen. Es heißt dazu in Erläuterungen unter anderem: Der Zeitaufwand für Beaufsichtigung und Anleitung bei den einzelnen Verrichtungen muß in jedem Einzelfall individuell erhoben und in den Gutachten bewertet werden.

Dass Demenzkranke in der Pflegeversicherung außen vor blieben, ist ein schlechtes Märchen. Der Eindruck konnte höchstens dadurch entstanden sein, dass die Gutachter die Krankheit ignorierten. Davon weiß auch die Deutsche Alzheimer Gesellschaft zu berichten. In ihrem ausführlichen (und zu empfehlenden) Buch “Leitfaden zur Pflegeversicherung” stellt sie fest: Ein Gutachter, der zu wenig Erfahrungen mit der täglichen Betreuung Demenzkranker hat, wird leicht durch den körperlich gesund wirkenden und beweglichen Menschen, den er vor sich sieht, zu einer unrealistischen Einschätzung geführt.

Die mit der Materie wenig oder gar nicht vertrauten Gutachter des MDK können nun, nach einer Mini-“Reform” des Jahres 2008, auf eine Pflegegruppe 0 ausweichen, was aber keineswegs mit den Richtlinien im Einklang steht, die es schon vorher gab. Die Deutsche Alzheimer Gesellschaft sieht dies noch viel gewichtiger:

Nach den Pflegebedürftigkeitsrichtlinien sind all diese notwendigen beständigen Anleitungen, Aufforderungen und das Motivieren (der Kranken) in Zusammenhang mit Verrichtungen der körperlichen Grund-versorgung als Pflegezeit anzuerkennen. Damit muß ein Alzheimer-Patient im Grunde sehr schnell in die Pflegestufe 3 eingestuft werden. (!)

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Im November 2009 erschütterte der tragische Freitod des Fußball-National-torwarts Robert Enke nicht nur Sportfans, sondern die ganze Nation. Allein 40.000 Menschen füllten das Fußballstadion von Hannover zur Trauerfeier.

Robert Enke litt an Depressionen, so heißt es. So einfach lässt sich ausdrücken, was eine schwere Erkrankung ist. Bekannt wurde dabei, dass an dieser Krankheit in Deutschland vier Millionen Menschen leiden. Das ist eine erschreckende Zahl, und sie sollte gleichzeitig ein aufschreckendes Signal sein. Nur wenige der Erkrankten nehmen sich das Leben wie Robert Enke.

Doch die anderen sind Pflegefälle ! Die einen weniger, die anderen mehr. Betreut werden sie hauptsächlich von Angehörigen, oder sie leben in einem Pflegeheim. Wichtig für alle sind die persönliche Anteilnahme und ausgiebige Gespräche.

Der Fall Enke muß mahnen. Es geht um den Pflegenotstand. Der ist jetzt schon fatal. Und er wächst an, schneller, als man glaubt. Die Ursache sind in erster Linie Versagensängste. Unter anderem treten sie aktuell auf bei Sorge um den Arbeitsplatz und vor allem bei Langzeitarbeitslosigkeit. Verbunden sind sie oft mit der Einnahme von Aufputschmitteln oder übermäßigem Konsum von Alkohol.

Diese Entwicklung führt ohne Zweifel zur Zunahme der Pflegebedürftigkeit. Depressionen, wie auch immer sie ihre Ursache haben, dürfen kein Tabuthema sein. In Öffentlichkeit und Politik muß ein Bewusstseinswandel eintreten. Der derzeitige Pflegenotstand muß nicht nur beseitigt werden, sondern die Pflegesituation bedarf für die Zukunft erheblicher Verbesserungen !

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