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Fall III


Alter 83 Jahre, weiblich. Gutachter Dr. med. (Fachrichtung nicht bekannt) - Er notiert: Antrag auf häusliche Pflegeleistung mit: ambulante Pflege Sachleistungen.

Pflegerelevante Aspekte laut Gutachten: Krankenhausaufenthalt wegen Magen- Darmbeschwerden. Verengerung der Wirbelsäulenerven, Wirbelsäule-Syndrom. Entartete (negativ entwickelte) Kniegelenkentzündung. Gastritiden = Schmerzanfälle Magen/Rücken. Sehvermögen deutlich herabgesetzt, kann auch mit starker Brille kaum noch lesen. Schwäche in den Beinen, Stock als Hilfsmittel. Notrufsystem.

Festgestellt vom Gutachter:
  Zeitaufwand Grundpflege: 10 Minuten pro Tag
  Zeitaufwand Hauswirtschaft (im Wochendurchschnitt): 66 Minuten pro Tag
  Ergebnis: Keine Pflegestufe.

Ich schicke das Ergebnis voraus und teile es mit direkt nach der Darstellung der pflegerelevanten Aspekte. Diese Angelegenheit gehört auch zu den symptomatischen Fällen, die immer wiederkehren.

Die alte Dame ist Witwe und seit längerem alleinstehend. Sie mußte sich einrichten in ihrem Lebensalltag. Sie lebt im eigenen Haus auf dem Lande. Ihre zwei Töchter sind berufstätig. Die eine wohnt ca. 40 km ab in einer Großstadt, die andere ca. 400 km entfernt und muß mit Bahn und Bus anreisen, um die Mutter zu besuchen und ihr von Fall zu Fall behilflich zu sein. Weitgehend ist die Mutter darauf angewiesen, sich selbst zu versorgen. Das wurde mit zunehmendem Alter schwieriger. Hinzu kommen die inzwischen aufgetretenen Krankheiten.

Liegt Pflegebedürftigkeit vor ? O ja. Der Gutachter aber meint: Nein.

Die alte Dame hat doch noch alles bestens im Griff. Nun, sie geht alle Alltagsverrichtungen an, wie seit vielen Jahren gewohnt. Doch es wird schwerer und schwerer für sie. Die Töchter helfen, können dies aber nur sporadisch tun. Seh- und Bewegungsschwierigkeiten machen der Mutter sehr zu schaffen. Die Töchter organisieren Krankengymnastik - in erster Linie privat, versteht sich. Arztbesuche sind vorher zu planen, denn die Mutter muß begleitet werden. Antrag bei der Pflegekasse wird gestellt auf ambulante Hilfe und Sachleistungen. Abgelehnt !

Der Gutachter, der Arzt, meint, die Versicherte sei doch noch ganz selbständig, lediglich in den Punkten Sich bewegen können, Sich sauberhalten und kleiden können sei sie teilweise unselbständig. Auf die Begutachtung zu Mobilität hat das bei ihm aber keinen Einfluß: Mobilität = Null. Auch bei allen anderen Verrichtungen wird der Hilfebedarf verneint. Nur bei Baden ist einmal in der Woche Vollständige Übernahme (durch eine der Töchter) als spezieller Faktor angegeben.

Wenn Sie ein junger Springinsfeld sind und es eilig haben, steigen Sie rasch in die Badewanne, tauchen unter, seifen sich ein, spülen sich ab, schrubben vielleicht noch ein bisschen den Körper und verlassen wieder pitschnass die Wanne.

Bei allem Husch-Husch: 4 Minuten. Doch Sie müssen sich ja auch noch abtrocknen: Mindestens 2 - 3 Minuten. - Wie viel Zeit dafür benötigt die hilfebedürftige alte Dame mit Wirbelsäulen-Syndrom, Kniegelenkentzündung und erheblichen Bewegungsschwierigkeiten und -schmerzen ? Raten Sie mal. Der Gutachter, ein Arzt, sagt: 4 Minuten. Ob er selber das schafft ? (Für den Dr. med. bei Wiederholungsprüfung sind es gar nur 2 Minuten ! Einer der Fälle, die man nur mit Kopfschütteln zur Kenntnis nehmen kann.)

Für alle Dinge, wegen derer der Antrag gestellt worden war, schweigt der Gutachter sich aus: “Maßnahmen zur Rehabilitation”, “Verbesserung der Pflegehilfsmittel/Hilfsmittelversorgung”, “Entlastung in Bezug auf den Antragsteller”. Er muß sich damit ja keine Mühe machen, denn er hat ja festgestellt: Eine Pflegebedürftigkeit gemäß SGB XI liegt nicht vor. Trotz aller eingangs erwähnten Erkrankungen und Behinderungen meint der Dr. med. in Bezug auf die Notwendigkeit einer Wiederholungsbegutachtung:
Aus medizinischer Sicht erforderlich: In 3 Jahren.

Nach Widerspruch wurde Antrag erneuert: Wiederholtes Erstgutachten 1 1/2 Jahre später durch anderen Gutachter Dr. med. (Fachrichtung nicht angegeben). Wesentliche Verschlechterung angemerkt. Krankenhausaufenthalt wegen eines Wirbelbruchs bedingt durch starke Osteoporose. Immer wieder auftretende Schmerzen im Wirbelsäulenbereich. Die Versicherte fühlt sich im allg. geschwächt. Beklagt zunehmende Schwäche in den Beinen ..., daher ist die Versicherte meistens im Bett. Je nach körperlichem Zustand bleibt die Tochter auch über Nacht. Da die Tochter berufstätig ist, wurde ein ambulanter Pflegedienst für 1 x tägl. pflegerischer Versorgung sowie Behandlungspflege eingeschaltet. - Nykturie 3 - 4 x. Depressive Phasen mit Antriebsminderung.

Ein erheblicher Krankheitsfall. Dennoch die Beurteilung:
Baden - Unterstützung 2 Minuten
Zahnpflege - Unterstützung 2 x je 1 Minute
 Ankleiden - Unterstützung u. Teilübernahme 7 Minuten
 Entkleiden - Unterstützung u. Teilübernahme 3 Minuten
Treppensteigen
(da Bad im 2. Obergeschoß und Schlafzimmer im 1. Obergeschoß) 2 x pro Tag je 4 = 8 Minuten.

Bei dem wenigen, das der Gutachter “festgestellt” hatte, müssen die alte Dame und ihre Pflegepersonen auch noch Geschwindigkeitsrekorde aufstellen. Und obwohl notiert wurde Nykturie 3 - 4 x, wurde die Erkrankung in der Begutachtung übergangen. Vor der Anerkennung dieses erhöhten nächtlichen Pflegebedarfs drücken sich die Gutachter herum - ich erwähnte es schon.

Letztlich festgestellt von Gutachter:
  Zeitaufwand Grundpflege: 62 Minuten pro Tag
  Zeitaufwand Hauswirtschaft (im Wochendurchschnitt): 60 Minuten pro Tag
  Ergebnis: Pflegestufe I.
Termin für Wiederholungsbegutachtung: In 4 Jahren.

Wie man sich verschätzen kann ! Folgegutachten bereits nach 2 Jahren ! Und zwar durch Gutachterin “Pflegefachkraft” in einem Pflegeheim, in das die Versicherte inzwischen nach längerem Krankenhausaufenthalt übergesiedelt war. Und jetzt zeigt sich etwas erstaunliches. Die Kranke ist hier natürlich unter Betreuung von medizinisch und pflegerisch versiertem Fachpersonal. Die Angaben der ausgebildeten Altenpflegerinnen und Altenpfleger kann die Gutachterin nicht in Zweifel ziehen.
Entsprechend von ihr festgestellt:
  Zeitaufwand Grundpflege: 247 Minuten pro Tag
  Zeitaufwand Hauswirtschaft (im Wochendurchschnitt): 60 Minuten pro Tag
  Ergebnis: Pflegestufe III.
  Vollstationäre Pflege ist erforderlich.

Ich will es mit diesen Beispielen genug sein lassen, mußte aber feststellen, dass in fast allen mir bekannt gewordenen Fällen die Gutachten ähnlich ablehnend verfasst worden sind.

Aufmerksam machen will ich Sie aber noch auf folgendes, das im Falle eines Widerspruchs für Sie nicht unwesentlich ist. Für das Gutachten zeichnen in der Regel zwei Personen, obwohl nur ein Gutachter die “Untersuchung” beim Hausbesuch vorgenommen hat.

Stellen Sie deshalb zwei Fragen,

1) was denn der Gutachter oder die Gutachterin für eine berufliche Qualifikation haben, und
2) was die für Sie unbekannte Person, die mit unterzeichnet hat, an Beitrag für das Gutachten leistete.

Vielleicht war’s nur die Stenotypistin.

Ein ganz wichtiger Tip :
Sie brauchen einen Verband oder eine Institution !


Ich will noch etwas erwähnen, was für Sie eventuell ein Tipp sein kann. Meinen/unseren Widerspruch (Fall I) hatte ich über den Sozialverband, bei dem ich Mitglied bin, eingereicht. Anscheinend macht es beim MDK gewissen Eindruck, wenn hinter den Einwänden Fachverstand zu vermuten ist. Gewundert hatte mich schon, dass die Gutachterin im Widerspruchsverfahren zwar dafür plädiert hatte, dem Widerspruch nicht stattzugeben, aber eine “Befundverschlechterung” der Antragstellerin immerhin auf 6 Monate vor ihren Begutachtungstermin zurückdatierte.

Im Fall II war der Widerspruch privat eingereicht worden.
Ich bin fast sicher, dass die zweite Ablehnung der Pflegebedürftigkeit nicht erfolgt wäre, hätte den Widerspruch ein Sozialverband oder ein Anwaltsbüro der Pflegekasse zugeleitet. Dann hätte es meines Erachtens nicht an 10 Minuten Grundpflege für die Anerkennung der Pflegebedürftigkeit gefehlt.

Da ich immer wieder auf Kosten hinweise, möchte ich hier anmerken, dass ein Jahresbeitrag für Mitgliedschaft in einem Sozialverband erheblich geringer ist als die Inanspruchnahme fachbezogener Anwaltskanzleien.

Noch ein Trick der MDK’s ist mir aufgefallen. Man kennt dort bei Widersprüchen verschiedene Systeme:

  1. “Gutachten im Widerspruchs-/Einspruchsverfahren”,
  2. “Wiederholtes Erstgutachten” und
  3. “Folgegutachten”. - Mit diesen Begriffen lässt sich manipulieren.


Bedenken Sie: Der Tag der Antragstellung ist für den Beginn des Leistungsanspruchs von Bedeutung, unabhängig davon, wann die Begutachtung (und somit die ggf. positive Entscheidung) erfolgt.

SGB XI § 33 Abs. 1: Versicherte erhalten die Leistungen der Pflege-versicherung auf Antrag. Die Leistungen werden ab Antragstellung gewährt, frühestens jedoch von dem Zeitpunkt an, in dem die Anspruchsvoraus-setzungen vorliegen.

Im von mir geschilderten Fall III fand nach Widerspruch ein sogenanntes “Wiederholtes Erstgutachten” statt. Im Erstgutachten wurde der Antrag abgelehnt, beim “Wiederholten Erstgutachten” jedoch die Pflegestufe I zuerkannt.

Demnach wäre also das Erstgutachten falsch gewesen und berichtigt worden, die “Anspruchsvoraussetzungen” hätten schon bei der ersten Begutachtung vorgelegen, und die Leistung hätte seit Antragstellung erfolgen müssen ! Weit gefehlt. Der Vorgang zeigt, dass die Pflegestufe I erst 1 Jahr und 4 Monate später gewährt wurde !
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Tipp für Sie bei einem Widerspruch:
“Wiederholtes Erstgutachten”

Sofern Sie der Meinung sind, dass das Gutachten fehlerhaft ist, beanstanden Sie es und erklären Sie, dass Sie damit nicht einverstanden sind. Begründen Sie, was falsch beurteilt wurde und verlangen Sie ausdrücklich, das Gutachten zu wiederholen. Achten Sie darauf, dass die erneute Beurteilung als “Wiederholtes Erstgutachten” und nicht als “Gutachten im Widerspruchs- oder Einspruchsverfahren” erfolgt. Fällt die Revision positiv aus, fordern Sie die Rückdatierung auf den Zeitpunkt der Antragstellung !
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