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- Individuelle Merkmale -

Ich werde später noch einmal auf Probleme, die mit Pflegeheimen verbunden sind, zurückkommen. Zunächst aber will ich mich mit dem gerade erwähnten Thema “Individuelle Merkmale” von Pflegebedürftigen beschäftigen, auch das ist ein kritischer Punkt der Pflege.

Private Pflegepersonen sind davon mitunter sehr betroffen. In völligem Gegensatz zu der staatlichen Vorstellung, man könne die jeweilige Pflegesituation anhand von Minuten der Betreuung feststellen, sind die tatsächlichen Gegebenheiten völlig anders.

Es kommt in erheblichem Maße auf die individuellen Merkmale an, die mit den pflege-bedürftigen Menschen zusammenhängen. Für den oder die Betreuer ist wesentlich, mit welchen Symptomen man sich auseinandersetzen muß.
Ich will mal eine Katalogisierung vornehmen, um zu verdeutlichen, was ich meine

Gemäß seiner Psyche kann ein Pflegebedürftiger sein:

  1. pflegeleicht
  2. leidlich (dies im wahren Sinne des Wortes) .
  3. unleidlich
  4. schwierig
  5. tyrannisch


Wohl dem, der einen „pflegeleichten“ Fall zu betreuen hat. Leider ist das nur selten gegeben. Wenn ein Erkrankter unter Depressionen oder Schmerzen leidet, ist er schwerer zu betreuen. Wer unleidlich, schwierig oder gar tyrannisch ist, nervt die betreuende Person, verursacht Verzweiflung und weckt sogar Aggressionen. Diese negativen individuellen Merkmale erschweren selbst geduldigen und engagiertesten Menschen die Pflege.

Eine ehemalige Kollegin hat ihre schwer demenzkranke Mutter zu pflegen. Die alte Dame gerät von Fall zu Fall in eine hartnäckige Angstpsychose und ruft dann laut um Hilfe, was schon dazu führte, dass Nachbarn die Polizei riefen. Ein schweres Los für die fürsorgliche Tochter. Und wenn sie mal einkaufen und die Mutter allein lassen muß, führt das zuweilen dazu, dass sie im Lebensmittelmarkt Sorge hat, in einer Schlange vor der Kasse zu lange warten zu müssen. Sie ist schon bekannt dafür, dass sie oft danach ruft, man möge doch bitte eine zweite Kasse öffnen. So hat jeder seine Probleme.

Ein Pflegefall muß betreut werden, niemand kann sich die Mentalität des Erkrankten aussuchen. Die Tatsachen müssen akzeptiert werden. Die Gefahr ist groß, dass der Betreuende dabei selbst in Komplikationen gerät.

Noch ein Beispiel:
Meine Frau war manchmal eigenwillig. Das bin ich mitunter auch. Aber das war etwas, das unser alltägliches Eheleben nicht gestört hatte; wir kamen gut miteinander aus. Und als Betreuer in der Zeit ihrer Pflegebedürftigkeit konnte ich es verkraften. Bis zum Punkt X, an dem sie vom Krankenhaus ins Pflegeheim kam. Da erst merkte ich, dass mein Nervenkostüm gelitten hatte. Am meisten jedoch hatte mir die nächtliche Inanspruchnahme zugesetzt, weil ich keine Nacht mehr durchschlafen konnte. Schuld war nicht meine Frau, sondern ihre Erkrankung, die Nykturie. Genau das, was bei den Gutachtern des MDK keine Berücksichtigung gefunden hatte.

Wie auch immer: Im Pflegeheim lernte ich Fälle kennen, die mühevoller zu betreuen waren als meine Frau. Geduld zu haben, ist eine Fähigkeit, die nicht jedem gegeben ist.

Bitte lassen Sie sich eindringlich sagen:
Ohne Geduld können Sie keinen Pflegefall betreuen. Sie können noch so viele Informationsveranstaltungen und Betreuungskurse in Sachen Pflege besuchen, wie Sie wollen, das wichtigste ist: Geduld üben !

Apropos: Lehrgänge und Informationen für Menschen, die einen Pflegefall zu betreuen haben, werden häufig angeboten. Auch wenn diese kostenlos sind, viel für Ihren persönlichen Fall werden Sie kaum davon mitnehmen können. Und haben Sie die Zeit dazu, an derartigen Veranstaltungen teilzunehmen ?
Nein, denn Ihr Pflegefall nimmt Sie so in Anspruch, dass Sie gar nicht die Möglichkeit haben, solche Termine wahrzunehmen. Gute Absichten für gute Ratschläge verpuffen. Und sich vorbereiten auf den Notfall ? Wie wollen Sie das bewerkstelligen, ohne zu wissen, wie der Notfall aussieht ?

Bei Ehepaaren zum Beispiel ist die Gefahr groß, dass eine jahrzehntelang vorhandene Harmonie ins Wanken gerät. Erkrankt einer der Partner schwer, können plötzlich Probleme des Zusammenlebens auftauchen, die man bisher nicht kannte. Schmerzen und Depressionen erzeugen Stimmungsschwankungen. Der Kranke reagiert wie ein schwer erziehbares Kind.

Auch Altersstarrsinn kann auftreten. Für den gesunden Ehepartner gibt die Verwandlung Rätsel auf, er reagiert ungehalten und oft verständnislos. Die Zukunftspläne, die man gemeinsam für den Ruhestand gemacht hatte, zerplatzen. Plötzlich sieht das Eheleben ganz anders aus. Doch an Fürsorge und Beistand für den erkrankten Partner darf es der gesunde nicht fehlen lassen. Es gilt, sich zu fügen in die veränderte Situation und alles zu tun, um sie zu meistern.

Niemand, der es aufrichtig meint, wird einem erkrankten Angehörigen bzw. einem Freund die Hilfe versagen, vorausgesetzt, dass er zeitlich und örtlich dazu in der Lage ist. Aber auch hier begibt sich jeder Gutwillige auf die bereits erwähnte Treppe. Sein Engagement wird zwangsläufig und fast unmerklich größer und aufwendiger.

Die Betreuung von Pflegebedürftigen in den eigenen vier Wänden lässt sich durch ambulante Pflegedienste vielleicht etwas abmildern, aber diese leisten ihre Arbeit auch nur nach Einsatzplan für einige Minuten. Die Last eines langen Pflegetages bleibt bei den Angehörigen.

Sie müssen kämpfen !

Mit diesem Buch sage ich Ihnen, dass Sie kämpfen müssen. Und das nicht nur nach außen, nein, Sie müssen auch mit sich selbst kämpfen.

Wie schaffen Sie es ? Hilfreich kann die Alltagsroutine sein. Einfach das tun, was zu tun ist, und möglichst nicht darüber nachdenken.

Es kann sogar vorkommen, dass Sie mit dem Erkrankten kämpfen müssen. Das hängt weitgehend davon ab, welche Mentalität der Erkrankte in seinem bisherigen Leben aufwies. “Mein Großvater ist wie ein kleines Kind, dauernd quengelig”, wurde mir einmal von einer jungen Frau gesagt. Dieser Betreuungsfall ließe sich vielleicht noch unter “pflegeleicht” einstufen. Im Falle meiner Frau sah das einmal etwas anders aus; als Beispiel will ich davon berichten.

Im Rahmen der Alltagsroutine hatte ich sie morgens aus dem Schlafzimmer ins Wohnzimmer gebracht und sie mit helfenden Händen auf ihren Sessel gesetzt. “Bleib bitte sitzen”, sagte ich, “ich gehe in die Küche, Kaffee zu kochen und das Frühstück zu bereiten.”

Was tat sie, während ich in der Küche hantierte ? Sie hatte sich mühsam erhoben, sich an den Lehnen zweier Stühle entlang getastet und wusste plötzlich nicht mehr weiter. Sie kam nicht vorwärts und nicht rückwärts. Schließlich knickten ihr die Füße weg, und sie fiel hin. Glücklicherweise dämpfte der Teppich ihren Sturz.

Ich rannte aus der Küche, um zu sehen, was geschehen war. - Und will hier eine Anmerkung einschieben für den Fall, dass Sie einmal in eine ähnliche Situation kommen:

Bei aller Eile müssen Sie zunächst den Herd ausschalten ! Sie können nicht wissen, was passiert ist und wie Sie in Anspruch genommen werden. Darüber vergessen Sie den Herd in der Küche ! - Ich hob meine Frau hoch und setzte sie wieder in ihren Sessel. Naturgemäß schimpfte ich mit ihr, hatte ich sie doch eindringlich gebeten, sitzen zu bleiben. Kämpfen Sie mal in einem solchen Fall mit sich selbst, dass Sie nicht schimpfen. Leicht ist es nicht.

Schlimm sind Kranke, die sich selber im Mittelpunkt sehen, und erwarten, dass sich alles nur um sie dreht. Schlimm sind sie besonders dann, wenn sie es darauf absehen, Ihnen ein schlechtes Gewissen einzuimpfen. “Du kümmerst dich nicht um mich.” - “Du vernachlässigst mich.” - “Das hätte ich nicht von dir gedacht.”

Wichtig ist, dass Sie sich von derartigen Vorwürfen nicht unter Druck setzen lassen. Akzeptieren Sie, dass der Betreute sich schlecht fühlt.

Er ist mit sich und der Welt unzufrieden und lässt seine Verbitterung an Ihnen aus, weil Sie wahrscheinlich seine einzige Bezugsperson sind. Aber begegnen Sie dieser Art emotionaler Erpressung. Suchen Sie nicht gleich die Schuld bei sich. Versuchen Sie eine vernünftige Ermahnung. Sagen Sie: “Es ist schade, dass du es so siehst. Ich bemühe mich um dich, wie es in meinen Kräften steht. Ich will dir nicht wehtun.”

Falls solch gutes Zureden nicht hilft, bleibt Ihnen nichts anderes übrig, als ungerechtfertigten Tadel abprallen zu lassen. Überprüfen Sie aber auch Ihr eigenes Verhalten und fragen Sie sich selbstkritisch, ob vielleicht an den Vorwürfen etwas Wahres sein kann. In jedem Fall müssen Sie mit sich selber ins Reine kommen. Belasten darf es Sie nicht, denn das würde Sie in Ihrer Pflegebereitschaft beeinträchtigen.
Und das darf nicht sein !

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